Durch die Augen von…
Aida Edemariam
Wenn die Großmutter erzählt
Eintauchen in die Geschichte Äthiopiens
“The Wife’s Tale” verwebt die persönliche Geschichte Ihrer Großmutter mit der Geschichte Äthiopiens. Wie tragen persönliche Erzählungen zu unserem generellen Verständnis der Geschichte eines Landes bei?
Aida Edemariam: Persönliche Geschichten beleuchten die alltäglichen Erfahrungen in einem Land und bieten Perspektiven, die in der traditionellen Geschichtsschreibung oft übersehen werden. Vor allem die Sichtweise von Frauen ist entscheidend. Historisch gesehen waren die Erzählungen männlich dominiert, aber Frauen nehmen eine wichtige Rolle beim Erhalt der Gesellschaft ein, insbesondere in Zeiten des Konflikts. Diese Erfahrungen aus der Sicht einer Frau zu verstehen, trägt dazu bei, die wahre Dynamik der Geschichte eines Landes zu begreifen.
Wie ist es Ihnen gelungen, die persönliche Geschichte Ihrer Großmutter mit dem breiteren historischen Kontext Äthiopiens zu verbinden?
Es war eine große Herausforderung, aber auch eine faszinierende Aufgabe, diese beiden Seiten in Einklang zu bringen. Ereignisse wie die Invasion durch italienische Truppen unter Mussolini im Jahr 1935 haben das Leben jedes einzelnen Menschen in Äthiopien stark beeinflusst. Das zeigt, wie sehr persönliche und historische Ereignisse miteinander verwoben sind. Mein Ziel war es, zu zeigen, wie Geschichte von Einzelnen gelebt wird, nicht nur von denen, die in Geschichtsbüchern dokumentiert sind.
Wie wichtig sind mündliche Überlieferungen für die Geschichtsschreibung?
Mündliche Überlieferungen sind der Schlüssel zu Erinnerungsarbeit und der Weitergabe von Geschichten, auch wenn diese sich im Laufe der Zeit verändern. Meine Großmutter war eine unglaublich begabte Geschichtenerzählerin, die ihre Erinnerungen bei der traditionellen äthiopischen Kaffeezeremonie teilte. Obwohl sie nicht lesen und schreiben konnte, spielte ihr phänomenales Gedächtnis eine entscheidende Rolle bei der Bewahrung der Geschichte und der Traditionen unserer Familie.
Der Umgang mit Zeit ist in Äthiopien ein anderer als in Österreich. Von der Angabe der Tageszeit, die sich nach der Sonne richtet, bis zur Kalenderrechnung selbst. Wie haben Sie diese Aspekte in Ihr Buch integriert?
In Äthiopien bezieht sich die Zeit oft auf Ereignisse, Jahreszeiten und Feste, nicht nur auf das Datum. Meine Großmutter erinnert sich zum Beispiel an ein Ereignis, das am Tag eines bedeutenden Festes stattfand, und nicht an ein Datum wie „13. Juni 1934“. Das ist eine kulturell reiche Art, Geschichte aufzuzeichnen. Die Erzählung des Buches folgt dem äthiopischen Kalender mit seinen 13 Monaten und spiegelt wider, wie eng das Leben mit dem Land und den landwirtschaftlichen Zyklen verbunden ist. Dieser Ansatz trägt dazu bei, ein Zeitgefühl zu vermitteln, das eng mit dem täglichen Leben und Überleben verbunden ist, insbesondere in ländlichen Gebieten.
Ihr Buch ist reich an äthiopischer Kultur und Tradition und an alltäglichen Ritualen, die für jemanden, der damit nicht vertraut ist, schwer zu verstehen sein könnten. Was waren die Herausforderungen bei der Darstellung dieser Kultur und Traditionen?
Ich wollte, dass die Leser in die Welt, die ich beschreibe, eintauchen können. Ich wollte nicht einfach außen stehen und erklären. Indem man sich direkt auf die Sprache und die Metaphern einlässt, findet man einen leichteren Zugang zur Kultur. Dieser Ansatz fördert ein tieferes Verständnis und eine engere Verbindung zur äthiopischen Lebensweise. Die größte Herausforderung bestand darin, diese Traditionen so darzustellen, dass sie sich natürlich anfühlen und in die Erzählung integriert sind. Ich wollte vermeiden, den Fluss der Geschichte durch Erklärungen zu unterbrechen, was oft eine heikle Balance erforderte.
Glauben Sie, dass das Verständnis der Vergangenheit Äthiopiens wichtig ist, um die aktuellen Ereignisse zu verstehen?
Auf jeden Fall. Die enormen Veränderungen zu Lebzeiten meiner Großmutter bieten eine einzigartige Gelegenheit, die Geschichte Äthiopiens zu betrachten. Die Wurzeln vieler aktueller Probleme lassen sich in der Geschichte zurückverfolgen. Diese Komplexität zu erkennen, ist für ein umfassendes Verständnis des heutigen Äthiopiens unerlässlich.
Wie trägt Ihr Buch zum Verständnis der Rolle der Frau in Äthiopien bei?
Frauen haben eine wichtige Rolle bei der Gestaltung unserer Gesellschaft und unserer Geschichte gespielt. Sie waren mit vielen Herausforderungen konfrontiert, wie dem Verlust ihrer Kinder, dem Mangel an Bildungsmöglichkeiten und vielem mehr. Trotz dieser Schwierigkeiten haben sie unglaubliche Stärke bewiesen und ihre Familien und Gemeinschaften zusammengehalten. Zurückblickend sehen wir auch einflussreiche Beispiele weiblicher Führungspersönlichkeiten wie die Kaiserin Taitu, die außergewöhnlich gebildet war.
Hat Ihre Großmutter auch über die Fortschritte gesprochen, die die Frauenrechte in Äthiopien zu ihren Lebzeiten erfuhren?
Ja, vor allem in Bezug auf Bildung. Sie war überzeugt, dass sie Großes hätte erreichen können, wenn sie gebildet gewesen wäre. Bildung spielte in ihrem Leben eine große Rolle, und das gab sie auch an ihre Kinder weiter. Ihre Töchter und Enkelinnen profitierten von den Bildungschancen, die sie nie hatte, was einen bedeutenden Wandel innerhalb einer einzigen Generation verdeutlicht.
Gab es einen Moment während Ihrer Recherche, der Sie besonders beeindruckt hat?
Die tiefe Auseinandersetzung mit der Sprache und der Kultur durch die Erzählungen meiner Großmutter war unglaublich bereichernd. Sie vermittelte mir ein tiefes Verständnis für die Nuancen dessen, was mich umgab, als ich aufwuchs. Ich habe auch Aspekte der äthiopischen Geschichte und Kultur entdeckt, die mir vorher unbekannt waren, was mein Verständnis und meine Wertschätzung für das Land und seine Kultur noch vertieft hat. Ich war zum Beispiel fasziniert von der Vielfalt der verschiedenen Formen der Ehe, die mehr Flexibilität und Autonomie bieten, als ich angenommen hatte. Natürlich gab es große Ungleichheiten, aber es steckt viel mehr Gleichheit und Freiheit darin, als ich vermutet hatte.
Aida Edemariam: Persönliche Geschichten beleuchten die alltäglichen Erfahrungen in einem Land und bieten Perspektiven, die in der traditionellen Geschichtsschreibung oft übersehen werden. Vor allem die Sichtweise von Frauen ist entscheidend. Historisch gesehen waren die Erzählungen männlich dominiert, aber Frauen nehmen eine wichtige Rolle beim Erhalt der Gesellschaft ein, insbesondere in Zeiten des Konflikts. Diese Erfahrungen aus der Sicht einer Frau zu verstehen, trägt dazu bei, die wahre Dynamik der Geschichte eines Landes zu begreifen.
Wie ist es Ihnen gelungen, die persönliche Geschichte Ihrer Großmutter mit dem breiteren historischen Kontext Äthiopiens zu verbinden?
Es war eine große Herausforderung, aber auch eine faszinierende Aufgabe, diese beiden Seiten in Einklang zu bringen. Ereignisse wie die Invasion durch italienische Truppen unter Mussolini im Jahr 1935 haben das Leben jedes einzelnen Menschen in Äthiopien stark beeinflusst. Das zeigt, wie sehr persönliche und historische Ereignisse miteinander verwoben sind. Mein Ziel war es, zu zeigen, wie Geschichte von Einzelnen gelebt wird, nicht nur von denen, die in Geschichtsbüchern dokumentiert sind.
Wie wichtig sind mündliche Überlieferungen für die Geschichtsschreibung?
Mündliche Überlieferungen sind der Schlüssel zu Erinnerungsarbeit und der Weitergabe von Geschichten, auch wenn diese sich im Laufe der Zeit verändern. Meine Großmutter war eine unglaublich begabte Geschichtenerzählerin, die ihre Erinnerungen bei der traditionellen äthiopischen Kaffeezeremonie teilte. Obwohl sie nicht lesen und schreiben konnte, spielte ihr phänomenales Gedächtnis eine entscheidende Rolle bei der Bewahrung der Geschichte und der Traditionen unserer Familie.
Der Umgang mit Zeit ist in Äthiopien ein anderer als in Österreich. Von der Angabe der Tageszeit, die sich nach der Sonne richtet, bis zur Kalenderrechnung selbst. Wie haben Sie diese Aspekte in Ihr Buch integriert?
In Äthiopien bezieht sich die Zeit oft auf Ereignisse, Jahreszeiten und Feste, nicht nur auf das Datum. Meine Großmutter erinnert sich zum Beispiel an ein Ereignis, das am Tag eines bedeutenden Festes stattfand, und nicht an ein Datum wie „13. Juni 1934“. Das ist eine kulturell reiche Art, Geschichte aufzuzeichnen. Die Erzählung des Buches folgt dem äthiopischen Kalender mit seinen 13 Monaten und spiegelt wider, wie eng das Leben mit dem Land und den landwirtschaftlichen Zyklen verbunden ist. Dieser Ansatz trägt dazu bei, ein Zeitgefühl zu vermitteln, das eng mit dem täglichen Leben und Überleben verbunden ist, insbesondere in ländlichen Gebieten.
Ihr Buch ist reich an äthiopischer Kultur und Tradition und an alltäglichen Ritualen, die für jemanden, der damit nicht vertraut ist, schwer zu verstehen sein könnten. Was waren die Herausforderungen bei der Darstellung dieser Kultur und Traditionen?
Ich wollte, dass die Leser in die Welt, die ich beschreibe, eintauchen können. Ich wollte nicht einfach außen stehen und erklären. Indem man sich direkt auf die Sprache und die Metaphern einlässt, findet man einen leichteren Zugang zur Kultur. Dieser Ansatz fördert ein tieferes Verständnis und eine engere Verbindung zur äthiopischen Lebensweise. Die größte Herausforderung bestand darin, diese Traditionen so darzustellen, dass sie sich natürlich anfühlen und in die Erzählung integriert sind. Ich wollte vermeiden, den Fluss der Geschichte durch Erklärungen zu unterbrechen, was oft eine heikle Balance erforderte.
Glauben Sie, dass das Verständnis der Vergangenheit Äthiopiens wichtig ist, um die aktuellen Ereignisse zu verstehen?
Auf jeden Fall. Die enormen Veränderungen zu Lebzeiten meiner Großmutter bieten eine einzigartige Gelegenheit, die Geschichte Äthiopiens zu betrachten. Die Wurzeln vieler aktueller Probleme lassen sich in der Geschichte zurückverfolgen. Diese Komplexität zu erkennen, ist für ein umfassendes Verständnis des heutigen Äthiopiens unerlässlich.
Wie trägt Ihr Buch zum Verständnis der Rolle der Frau in Äthiopien bei?
Frauen haben eine wichtige Rolle bei der Gestaltung unserer Gesellschaft und unserer Geschichte gespielt. Sie waren mit vielen Herausforderungen konfrontiert, wie dem Verlust ihrer Kinder, dem Mangel an Bildungsmöglichkeiten und vielem mehr. Trotz dieser Schwierigkeiten haben sie unglaubliche Stärke bewiesen und ihre Familien und Gemeinschaften zusammengehalten. Zurückblickend sehen wir auch einflussreiche Beispiele weiblicher Führungspersönlichkeiten wie die Kaiserin Taitu, die außergewöhnlich gebildet war.
Hat Ihre Großmutter auch über die Fortschritte gesprochen, die die Frauenrechte in Äthiopien zu ihren Lebzeiten erfuhren?
Ja, vor allem in Bezug auf Bildung. Sie war überzeugt, dass sie Großes hätte erreichen können, wenn sie gebildet gewesen wäre. Bildung spielte in ihrem Leben eine große Rolle, und das gab sie auch an ihre Kinder weiter. Ihre Töchter und Enkelinnen profitierten von den Bildungschancen, die sie nie hatte, was einen bedeutenden Wandel innerhalb einer einzigen Generation verdeutlicht.
Gab es einen Moment während Ihrer Recherche, der Sie besonders beeindruckt hat?
Die tiefe Auseinandersetzung mit der Sprache und der Kultur durch die Erzählungen meiner Großmutter war unglaublich bereichernd. Sie vermittelte mir ein tiefes Verständnis für die Nuancen dessen, was mich umgab, als ich aufwuchs. Ich habe auch Aspekte der äthiopischen Geschichte und Kultur entdeckt, die mir vorher unbekannt waren, was mein Verständnis und meine Wertschätzung für das Land und seine Kultur noch vertieft hat. Ich war zum Beispiel fasziniert von der Vielfalt der verschiedenen Formen der Ehe, die mehr Flexibilität und Autonomie bieten, als ich angenommen hatte. Natürlich gab es große Ungleichheiten, aber es steckt viel mehr Gleichheit und Freiheit darin, als ich vermutet hatte.
"The Wife's Tale"
In „The Wife’s Tale“ erzählt Aida Edemariam die persönliche Geschichte ihrer Großmutter und verbindet diese mit prägenden Momenten der äthiopischen Geschichte. Die Erzählung beginnt mit der Verheiratung der achtjährigen Yetemegnu mit dem rund 30 Jahre älteren Priester Tsega Teshale. Getragen von Metaphern und starken Bildern, führen die Erinnerungen Yetemegnus durch ein Leben geprägt von Verlust und Lebenskraft, was sich auch in der Geschichte Äthiopiens widerspiegelt. Im Laufe ihrer Zeit erlebt Yetemegnu politische Umstürze und Widerstand, Revolten und Hungersnöte, durch die sie ihre Familie mit unerschütterlicher Stärke leitet. „The Wife’s Tale“ wurde erstmals 2018 veröffentlicht und ist als Buch und Hörbuch in englischer Sprache erhältlich.
Zur Person
Aida Edemariam ist Journalistin und Autorin und arbeitet für die britische Zeitung „The Guardian“. Als Tochter eines äthiopischen Vaters und einer kanadischen Mutter wuchs sie in Addis Abeba auf und zog im Alter von 15 Jahren nach England. Ihr Buch „The Wife’s Tale“ erzählt die persönliche Lebensgeschichte ihrer Großmutter in Äthiopien und verbindet sie mit historischen Ereignissen ihrer Zeit.
Hilfsmaßnahmen im Osten Afrikas
OeNB-Spendenaktion 2024
Erfolgreiche Spendenaktion der OeNB: Im September 2024 wurden von den Mitarbeitenden 9.678 Euro für Hilfsmaßnahmen im Osten Afrikas gespendet. Das Direktorium verdoppelte den Betrag großzügig, sodass insgesamt rund 20.000 Euro an Ärzte ohne Grenzen, den Entwicklungshilfeclub und Menschen für Menschen gingen.
Aktuelles
Spendenaktion 2024
Mit dir verändern wir die Welt
Unter dem Motto „Mit dir verändern wir die Welt“ rufen wir dazu auf, die Kraft der Gemeinschaft für nachhaltige Veränderungen in Äthiopien zu nutzen. Ziel der Spendenaktion ist es, bis zum 31. Dezember 30.000 Euro zu sammeln, um Projekte in den Bereichen Bildung, sauberes Wasser, medizinische Versorgung und Landwirtschaft zu realisieren.
Aktuelles
Medienbericht
radio klassik: Ein Thementag im Zeichen des Wandels
Am 15. November widmet sich radio klassik einen ganzen Tag lang der Arbeit von Menschen für Menschen in Äthiopien. In vielfältigen Beiträgen wird ein facettenreiches Bild des Landes und unserer Projekte gezeichnet, die das Leben vieler Menschen nachhaltig verbessern.
MedienberichteAktuelles